Bach frisch aufgewienert
Bachs Motetten – zum wievielten Male? Jeder wichtige Chor, jedes wichtige Ensemble, jeder wichtige Barock-Dirigent hat diese sechs fantastischen Chorstücke schon durchexerziert und ihnen neue, jedenfalls individuelle Facetten abgewonnen. In Chorbesetzung, mit Solisten, mit Orchester oder nur mit Basso Continuo: es gibt alles, was mit den Motetten möglich ist. Und wohl genau deshalb ist die neue Einspielung mit dem Wiener „Chorus sine nomine“ unter seinem Leiter Johannes Hiemetsberger solch eine große Überraschung. Denn vor dem Glanz so illustrer Musiker-Namen wie Gardiner, Harnoncourt, Jacobs oder Masaaki Suzuki hatte man fast vergessen, was diese Motetten noch herausfordern: die schiere Chor-Kultur nämlich. Und hierbei erweist sich Hiemetsberger als großer Virtuose. Die Aufnahme zeigt, welche Tugenden große Chor-Interpretationen ausmachen: rigorose Auswahl der Stimmen, ständige Ensemble-Arbeit und regelmäßiges Feilen an der Klangkultur. Mit dieser punktet die Einspielung an erster Stelle. Der „Chorus sine Nomine“ ist feinste Wiener Schule. Diese Verbindung von schwebender Leichtigkeit und süffig-goldenem Glanz der Stimmen gibt es nur in Wien. Prominentestes Aushängeschild dieser Kultur sind die Wiener Sängerknaben, die aber leider gnadenlos kommerziell ausgeschlachtet werden. Der „Chorus sine Nomine“ ist in Sopran und Alt mit Frauen besetzt, aber Hiemetsberger erreicht auch mit ihnen den fast entrückten, von Erdenschwere losgelösten Glanz, den man sonst nur Knabenchören nachsagt. Und damit macht er ebenso scheinbar schwerelose, unbegrenzt bewegliche Musik, die Bachs Kompositionen in ihre feinsten Verästelungen nachverfolgen lässt. Noch nie klangen Bachs Motetten so klar, so leicht, so offen wie die Partitur selbst und gerade deshalb so geheimnis- und kunstvoll zugleich. Wenn der Vergleich erlaubt sei: die Kunst Hiemtsbergers gleicht jener der unvergleichlichen Wiener Patissiers. Sie verwenden kompromisslos nur die besten Zutaten, sie geben deren Qualitäten unverhüllt zu Erkennen und führen sie zu Komposition zusammen, deren Gesamt-Genuss auch immer ein ganz raffiniertes Geheimnis bleibt.
Laszlo Molnar