Tuesday 23 May 2017

Der Chorus sine nomine – ein Weltklasse-Ensemble

Das ORF Radio-Symphonieorchester Wien, oder abgekürzt RSO, brillierte wieder einmal unter Cornelius Meister. Am 21. Mai durfte er abermals seine Stärke unter Beweis stellen, die darin besteht, einerseits mit großer Hingabe und Freude zu dirigieren und andererseits die Partituren so gut zu kennen, dass er seinem Orchester auch allerfeinste rhythmische und klangliche Nuancen abverlangen kann.

Auf dem Programm standen jeweils ein kurzes Stück von Olivier Messiaen (un Sourire) und Anton Bruckner (Christus factus est. Motette für gemischten Chor). Wobei letzteres berückend schön vom Chorus sine nomine, aufgereiht hinter dem Orchester, interpretiert wurde. Stimmlich zeichnete sich das Ensemble durch unglaublich ausgewogene Stimmen aus, sowohl was die Frauen als auch die Männer betrifft. Töne wie Samt und Seide, vom Bass bis zum Alt umschmeichelten das Publikum im Saal. Erhabene Klangfülle und zarte Schwebezustände hielt diese ausgesucht schöne Interpretation bereit, die in fünf Minuten mehr an musikalisch hochrangigem Input lieferte als so manch ausufernde, symphonische Dichtung – egal aus welcher Epoche.

„Biblische Lieder op. 99“ von Antonin Dvorák in der Bearbeitung für Bariton und Orchester, vom Komponisten selbst und von Vilém Zemánek orchestriert, lieferten die perfekte Ausgangslage für die Präsentation eines herausragenden Baritons. Der in Polen geborene Artur Ruciński , der 2002 sein Debüt gab und mittlerweile häufiger Gast an den internationalen, großen Häusern ist, bestach mit seiner ungewöhnlich klaren, geschmeidigen und zugleich kraftvollen Stimme. So, als ob es ihn keinerlei Mühe bereiten würde, intonierte er die 10 Gesänge, in welchen sich beinahe die ganze Bandbreite niederschlägt, die ein Bariton singen kann. Von kleinen, volksliedhaften Sequenzen hin zu großen, an Oper erinnernde Arien, über reinsten Belcanto ist in dieser Komposition, die Dvorak selbst zu seinen besten zählte, alles vertreten. Die unglaublichen Ohrwürmer, die der Komponist in diesem Werk verpackt hat, wirken wie eine wohldosierte Droge. Genug bekommen konnte man von Rucińskis Interpretation nicht. Nicht nur, dass er ein Stimmvolumen hat, das den großen Saal des Konzerthauses mit Leichtigkeit füllt, er verfügt auch noch über ein herrlich feines, unverbrauchtes Vibrato, das er gekonnt in den leisen Stellen zur Geltung bringen konnte. Mit diesem musikalischen Dvorák-Schatzkästchen durfte er sich von seiner allerbesten Seite zeigen und erhielt dafür Bravo-Rufe.

Pierre Boulez war in diesem Konzert mit „Le Visage nuptial“ vertreten, das er für Sopran, Alt, Frauenchor und Orchester verfasste. 1957 unter ihm selbst in Köln uraufgeführt, schrieb er dafür fünf Sätze nach Gedichten von René Char. Bereits am 16. Mai gab es im Rahmen des Musikfestes im Konzerthaus eine erste Kostprobe Boulez´scher Char-Vertonungen. Nun zeigte sich erneut, dass der Komponist eine höchst adäquate Form fand, die Gedichte, die zwischen einem nachvollziehbaren Naturalismus und höchst freien, literarischen Assoziationen oszillieren, musikalisch zu illustrieren.
Besonders reizvoll an der „Visage nuptial“ war das gesangliche Duo Yeree Suh (Sopran) und Hilary Summers (Alt), die auch rein optisch wunderbare Vertreterinnen ihrer Stimmlagen sind. Boulez hat beiden Vokalpartien denselben Text eingeschrieben und ergänzt dieses Klangphänomen noch durch einen quantitativ sehr großen Frauenchor, der von den Damen des MDR Rundfunkchores Leipzig und des Chorus sine nomine gestellt worden war. Damit ist die ganz besondere Klangcharakteristik dieses Werkes angedeutet. Egal ob Boulez hier mit großen Klangmassen oder ganz zarter Vielstimmigkeit, mit gesanglichen Unisonopartien bis hin zum gänzlichen Pausieren der Solistinnen arbeitete, der Reiz liegt in der „Doppelzüngigkeit“, die sich automatisch ergibt, wenn zwei Stimmlagen auf ein und denselben Text angesetzt werden. Auch wenn sie eigens ausnotierte Partien singen. Die große Schlagwerkbesetzung und selbstverständlich auch das große Orchester an und für sich, bringen es mit sich, dass dieses Konzert nicht wirklich oft auf dem Programm steht. Auch in dieser Komposition wird man Zeuge von hin und her wogenden Klangphänomenen, obwohl das Orchester nicht wie beim „Ritornel“ im Raum verteilt agiert. Ein in höchstem Maße komplexes Werk, der mit seiner Komplexität der literarischenVorlage nur mehr als gerecht wird.
(European Cultural News, Michaela Preiner, 23.5.2017)